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Verfasst am: 14.06.2005, 16:08
14.06.2005:
Heavy Metal in der Türkei an der Uni
Der Leipziger Nachwuchswissenschaftler Pierre Hecker untersucht in seiner Dissertation "Die türkische Metal-Szene im Kontext der Globalisierung".
Unter dem Dach des Promotionsstudienganges findet sich
manches Thema, das auf den ersten Blick wenig akademisch anmutet. Dieser Erfahrung jedenfalls sieht sich Pierre Hecker gegenüber. An der Universität Erlangen hat der junge Sozialwissenschaftler Kulturgeographie, Politik- und Islamwissenschaften studiert. Er wirft die ebenso ungewöhnliche wie zeitgemäße Fragestellung auf: "Die türkische Metal-Szene im Kontext der Globalisierung".
Warum er sich gerade für dieses entschieden hat? Aus zwei Gründen: Zum einen, "weil man den Wertewandel in der türkischen Gesellschaft an dieser Szene gut beobachten kann". Und zum anderen, "weil diese Szene zeigt, dass transnationale soziale Räume und Gemeinschaften sowie ihre Identität relativ unabhängig von nationaler und religiöser Zugehörigkeit entstehen".
Heavy Metal begann sich Mitte der 1980er Jahre in der türkischen Gesellschaft, vornehmlich im städtischen Bereich und im Milieu der Mittelschicht, zu etablieren - als
Musikstil, mit dem zugleich ein "anderer" Lebensstil einherging. Die ersten Impulse gingen von LP's und
Kassetten aus, die von Privatpersonen aus dem Ausland eingeführt und in der Türkei verkauft wurden, es folgten
T-Shirts und Zeitschriften, Clubs und Bars. Und als der Karikaturist Abdül Kadir Elcioglu, Ende der 80er Jahre
begann auf dem freien Rand des bekannten Satire-Magazins "Hibir" Rocker und Metaller und ihre Bands zu zeichnen, hatte die junge Szene quasi sogar ihren eigenen Comic-Strip. "Das war", schildert Pierre Hecker, "eine sehr, sehr wichtige Informationsquelle." Das Magazin samt Metal-Comic hatte in Spitzenzeiten eine landesweite Auflage von 100.000 Heften pro Monat.
Den Zugang zu Gesprächspartnern und Quellenmaterial hat er sich über die Netzwerke der Heavy-Metal-Szene geöffnet: Er hat im Internet, bei Bands, Fanzines und Plattenfirmen und an den lokalen Treffs recherchiert. Teilnehmende Beobachtung zur Identifizierung der Codes, biografische Interviews zur Sozialisierung durch Musik und zur Bedeutung der Szene-Zugehörigkeit für die Identität, Leitfadeninterviews zu spezifischen Aspekten des Wertewandels und zur Rolle der Religion im Alltag und schließlich Experten-Interviews zu Geschichte und Entwicklung des Heavy Metals in der Türkei - aus diesen Methoden und Quellen speist sich Heckers Studie.
Aus seiner Sicht gehört die Heavy-Metal-Szene zu jenen Bereichen der türkischen Gesellschaft, in denen sich der Konflikt zwischen säkularem Staat und islamischen Werten deutlich abzeichnet. Als Beispiel nennt Pierre Hecker die öffentliche Wahrnehmung. Die war in den 80er und 90er Jahren entscheidend durch den Dresscode der Metaler und Rocker geprägt: Traten sie - wie weltweit üblich - auch in
der Türkei mit langen Haaren, schwarzer Bekleidung und schwerem Schmuck auf, stießen sie auf das klassische Verständnis, das lange Haare mit Weiblichkeit gleich setzt
- "Männer mit langen Haaren sind keine richtigen Männer." Massive Anfeindungen gegen die damals kleine Szene und ein zugleich stärkerer innerer Zusammenhalt in der Szene
gehören zu den Erinnerungen, die Pierre Hecker aus dieser Zeit gesammelt hat.
Ende der 1990er Jahre schwappte das Reizthema "Satanismus" in die Medien. Viele Bands, die sich von der islamischen Religion distanzierten, benutzten Images und Symbole, die als religiöse Provokation wahrgenommen wurden. Die Debatte, die daraufhin entfacht wurde, drehte sich um die Ideale der türkischen Gesellschaft. Islamisch geprägte Tageszeitungen wie beispielsweise "Zaman" setzten zusammen mit der Boulevardpresse eine Diskussion um die "Verwestlichung der Jugend", die "fehlende religiöse Erziehung" und um "Drogen" in Gang. Jetzt wurde der Konflikt zwischen traditionellen Werten und neuen, transnational beeinflussten Identitäten auf medialer Ebene ausgetragen.
Auf Seiten der Heavy-Metal-Szene konnte Pierre Hecker seit diesem Zeitpunkt feststellen, dass Religion ihren Stellenwert als zentraler Aspekt des Lebens zunehmend einbüßte. Zumindest in Großstädten wie Istanbul - in denen nicht zuletzt ein "gewisser Gewöhnungsprozess" gegenüber der Szene und ihrer Symbolik eingesetzt hat - ist es inzwischen gang und gäbe, dass sich Frauen und Männer in Rockkneipen treffen; dass Gebetszeiten nicht mehr den Alltag einteilen; dass voreheliche Beziehungen nicht mehr tabuisiert sind; oder dass - weniger islamische als vielmehr archaische - Traditionen wie der Ehrenmord abgelehnt werden. "Es etablierte sich ein säkulares
Verständnis von Religion und eine offene Ablehnung traditionaler Wertvorstellungen", resümiert der Leipziger Sozialwissenschaftler.
-Thomas Häßler- |